Fraunhofer vs. Corona

Die Fraunhofer-Gesellschaft lobte bereits zu Beginn der Pandemie 2020 ein eigenes Fördervolumen von 50 Mio Euro für Anti-Corona-Forschungsprojekte an den Fraunhofer-Instituten aus. Damit sollten unterschiedliche Kompetenzen neu gebündelt und so schnelle und wirksame Methoden und Lösungen zu verschiedenen Aspekten der Pandemie entwickelt werden sollten. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung, hier schnell und effizient zu handeln, sollte nicht zuletzt auch an die eigenen Mitarbeiter das Signal gegeben werden, dass alle etwas aktiv zur Bewältigung der Krise beitragen konnten.

Die bearbeiteten Themen reichen von der Mitentwicklung der Corona-App bis hin zum schnellen Screening bekannter und zugelassener Wirkstoffe in Bezug auf eine mögliche Wirksamkeit gegen Corona. Auch das Fraun­hofer ISC brachte sich hier ein und beteiligte sich an fünf erfolgreichen Anti-Corona-Projekten, von neuen, zuverlässigeren Abstrichbestecken bis hin zu schnellem Wirkstoffscreening.

Beispiele aus der aktuellen Forschung

»RoboCure«: automatisierte Produktion von In-vitro-Zellkulturen

Einen schnellen Beitrag zur Eindämmung einer Virus-Pandemie könnten Wirkstoffe leisten, die bereits für vergleichbare Erkrankungen klinisch zugelassen sind. So werden auch in einer Reihe von klinischen Studien bekannte Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gegen das Corona-Virus getestet (sog. Repurposing). Doch während die Anzahl der Studien, die sich überhaupt mit COVID-19 beschäftigen, stolze 8311 beträgt, sind es bis dato nur 11 Studien, die sich mit dem Repurposing beschäftigen (Quelle: clinictrial.gov).

Der Aufwand, der betrieben werden muss, um vorab (präklinisch) geeignete Wirkstoffkandidaten zu identifizieren, ist groß und deshalb eine Hürde für die breitere Nutzung dieses Verfahrens. In dem Zusammenhang haben In-vitro-Testmodelle, d. h. im »Reagenzglas« kultivierte Gewebe, wichtige Vorteile. Die Verwendung humaner 3D- oder 2D-Gewebemodelle der oberen Atemwege, die an der Medium-Luft-Grenze kultiviert werden, und von Organoiden des Alveolargewebes der Lunge bietet in der präklinischen Phase die Möglichkeit, geeignete Wirkstoffe schnell zu identifizieren, die eine Replikation von Viren wie die des SARS-CoV-2 in humanen Zellen verhindern.

Das Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ-RT und der assoziierte Lehrstuhl für Tissue Engineering und Regenerative Medizin (TERM) an der Universität Würzburg haben deshalb im transdisziplinären Projekt RoboCure den Einsatz einer flexiblen, interaktiven Robotertechnologie in der Produktion von In-vitro-Organoidzellkulturmodellen des Atemtraktes in den Fokus genommen. Mittelfristig soll dieser Prozess unter stringenten, regulatorischen GMP-Bedingungen (Medizinprodukte: ISO 13485, Arzneimittel: GMP (engl. Good Manufacturing Practice)) unter Berücksichtigung relevanter Qualitätssicherungskriterien für die individualisierte Diagnostik und Therapie zur Verfügung stehen.

Die roboterunterstützte Produktion ermöglicht eine schnelle, standardisierte präklinische Identifizierung und Qualifizierung von bereits für andere Anwendungen zugelassenen Substanzen (Repurposing studies) und verkürzt damit den Weg zu einer unmittelbaren klinischen Translation.

Durch eine Automatisierung des aufwendigen Herstellungsprozesses solcher humanen Gewebemodelle im Rahmen von RoboCure soll nicht nur Zeit bei der Generierung dieser Modelle eingespart werden, sondern auch die Standardisierung und Reproduzierbarkeit erhöht werden. Dabei basiert das Vorhaben auf Vorarbeiten wie den bereits entwickelten Zellkulturmodellen oder der automatisierten Anlage zur Herstellung von Hautgewebe. Die Produktion von Organoidmodellen in der Anlage wurde darüber hinaus bereits für Modelle des Darms in einem weiteren Projekt begonnen. Dabei wurden kritische Hürden überwunden wie zum Beispiel die Handhabung von viskosen Medien durch einen Bioplotter. Damit kann ein kurzfristiger Beitrag zur Bewältigung der Krise geleistet werden. Aber auch mittel- bis langfristig kann technologisches Know-how bereitgestellt werden für eine breit einsetzbare, automatisierte Testplattform.

»COVID-Tip«: genauere Testergebnisse mit neuem Abstrichbesteck möglich

Die Corona-Pandemie hat es gezeigt: Schnelle und vor allem zuverlässige Tests, mit denen sich infizierte Personen möglichst frühzeitig und zuverlässig erkennen lassen, sind eine wesentliche Schutzmaßnahme, um die Ausbreitung einer großen Epidemie zu verlangsamen. »Frühzeitig« und »zuverlässig« sind hier wirklich die Schlüsselbegriffe, denn nur wenn diese beiden Eigenschaften verknüpft werden, lassen sich die Bürger*innen motivieren, sich dann auch entsprechend verantwortungsvoll zu verhalten.

Das Fraunhofer-Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ-RT hatte deshalb schon erste eigene Überlegungen angestellt, wie sich sowohl die Sensitivität als auch die Zuverlässigkeit beim Testen erhöhen lassen, als der Aufruf der Fraunhofer-Gesellschaft, sich an dem Programm Fraunhofer vs. Corona zu beteiligen, auch eine Finanzierungsmöglichkeit bot.
 

Drei Testverfahren zum Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion werden im Wesentlichen genutzt

Der Nachweis von Antikörpern (AK) im Blut gegen das Virus wurde von der WHO nicht empfohlen, da die AK meist erst nach der der infektiösen Periode von SARS-CoV-2-infizierten Patienten nachweisbar sind. Dadurch kann die Virusverbreitung in einer aktuellen Epidemie/Pandemie nicht effektiv verhindert werden.

Frühzeitiger und schneller geben die beiden anderen Testtypen Aufschluss:
Ein PCR-Test weist direkt das Erbgut des Erregers nach und gilt derzeit als am zuverlässigsten und sensitivsten, d. h. er spricht bereits auf sehr geringe Virenlasten an. Da hierfür spezielle Geräte notwendig sind, ist das Verfahren öffentlichen und z. B. auch betrieblichen Teststellen vorbehalten.
In einem Antigen-Schnelltest werden nicht die Erreger an sich, sondern sog. Spikeproteine (Proteine auf der Virushülle) nachgewiesen. Dieses Verfahren ist auch als Selbsttest bekannt, da für das Testen lediglich ein entsprechendes Testkit benötigt wird. Das Verfahren ist nicht so sensitiv wie ein PCR-Test, die Virenlast muss deutlich höher liegen.

Bei beiden Verfahren werden Abstriche mit einem Teststäbchen im Nasen-/Rachenraum durchgeführt, um somit Proben der Nasenschleimhaut für die Analyse zu gewinnen. Mit diesen Abstrichen steht und fällt letztlich die Qualität des Testergebnisses. Je besser das Material des Teststäbchens für die Sammlung der Antigene oder Erbgut-Bestandteile der Viren geeignet ist, desto sensitiver und zuverlässiger wird die Testaussage. Das Ziel des Projekts COVID-Tip war deshalb, ein innovatives Abstrichbesteck zu entwickeln, das in konzentrierter Form die für die Analyse benötigten Bestandteile aus der Nasenschleimhaut aufnimmt und im anschließenden Analyseprozess vollständig wieder abgibt. Diese selektive Adsorption gelang im TLZ-RT mithilfe der Fasertechnologie und einer speziellen Nachbehandlung der für diesen Zweck hergestellten Fasern, ergänzt durch das biomedizinische Know-how des interdisziplinären Projektteams. Erste Gespräche mit Interessenten eröffneten auch bereits Anwendungsfelder über den Einsatz bei der gegenwärtigen Pandemie hinaus.    

»DRECOR«: Drug Repurposing for Corona

Projekt DRECOR: In-vitro-Modelle Atemwege
© Fraunhofer ISC
Die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt, dass die partikulären Wirkstoffträger direkt mit dem Schleim und den Kinozilien der Atemwegsmodelle interagieren.

Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie werden dringend Medikamente benötigt, um insbesondere schwer erkrankte COVID-19 (engl. corona virus disease 2019)-Patienten zu therapieren. Da die Entwicklung und Zulassung neuer Wirkstoffe sehr zeit- und kostenintensiv sind, untersuchen Wissenschaftler weltweit, ob sich bereits für andere medizinische Anwendungen zugelassene Wirkstoffe für die Therapie von COVID-19 eignen. Dieser Vorgang, den man als »drug repurposing« bezeichnet, kann den Zulassungsprozess wesentlich verkürzen.

Im Rahmen des Anti-Corona-Programms »Fraunhofer vs. Corona« prüfte das DRECOR (Drug Repurposing for Corona)-Konsortium über 20 bereits zugelassene Wirkstoffe bzgl. antiviraler Eigenschaften gegenüber SARS-CoV-2 (engl. severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2). Die Fraunhofer-Wissenschaftler untersuchten, ob diese Substanzen den Eintritt des Coronavirus in die Zielzellen hemmen bzw. die Vermehrung des Virus in den Zellen unterbinden können und ob diese auch sicher in der Anwendung sind. Eine Auswahl dieser definierten Wirkstoffmoleküle sollte speziell verpackt werden, damit diese über ein Inhalationsgerät eingeatmet werden und spezifisch die Atemwege erreichen können.

 

Die TLZ-Lösung und die Anwendung

Da diese Wirkstoffmoleküle für neuartige Anwendungen nicht direkt am Menschen getestet werden dürfen, stellen die Wissenschaftler am TLZ-RT komplexe Gewebemodelle der menschlichen Atemwege her, die der Gewebestruktur und -funktion in vivo sehr ähnlich sind (Steinke et al. 2014, Sivarajan et al. 2021, Abb. 1A).
Dem Forschungsteam gelang es, drei dieser Wirkstoffe in einer synthetischen Matrix einzukapseln und in feinste Partikel zu versprühen. Das Versprühen im sub-µ-Bereich ist sehr wichtig, damit die eingekapselten Wirkstoffe tatsächlich in die tiefen Atemwege gelangen können. Das TLZ-Team zeigte, dass die Partikel sich am Schleim der Atemwegsmodelle anheften und die Zielzellen im Gewebemodell erreichen (siehe Abbildung).

In Kooperation mit der Universität Würzburg (Institut für Virologie und Immunbiologie, Prof. Jochen Bodem) konnte ein geringer antiviraler Effekt der Wirkstoffmoleküle Remdesivir und Nafamostat gegenüber SARS-CoV-2 und eine Interaktion der Partikelmatrix mit den Viren identifiziert werden. Diese spannende Beobachtung verfolgen wir in aktuellen Experimenten weiter. Es gilt nun herauszufinden, ob die Partikel SARS-CoV-2 inaktivieren oder den Viruseintritt in die Zielzellen hemmen.

»Anti Viral Herbs«: antvirale Naturstoffe als Therapieergänzung

Pflanzlichen Extrakten und Naturstoffen wird häufig eine immunstärkende oder heilungsfördernde Wirkung zugesprochen. Auch Erkrankungen durch Viren wie Masern, Herpes oder Covid zählen zu den Infektionen, die mithilfe von pflanzlichen Substanzen positiv beeinflusst werden können. Zur Behandlung von SARS-CoV-2-Viren, die sich hauptsächlich im Rachenraum ansiedeln, eignet sich die Applikation von antiviralen Extrakten durch Rachensprays. Bislang ist der Einsatz von Rachensprays allerdings wenig effizient: Der applizierte Wirkstoff verbleibt nur für wenige Minuten im Rachen- bzw. oberen Halsbereich, sodass sich die Wirkmöglichkeit auf einen kurzen Zeitraum begrenzt.

 

Verkapselte Wirkstoffformulierungen für eine langfristige Wirkungszeit

Das Forschungsteam des Fraunhofer-Translationszentrums für Regenerative Therapien TLZ-RT am Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC hat das zeitliche Problem gelöst: Die Verkapselung der Pflanzenextrakte ermöglicht das Immobilisieren des Wirkstoffs im infektionsrelevanten Bereich und somit eine verzögerte Freisetzung, die sich über einen Zeitraum von Stunden bzw. Tagen erstrecken kann. Im Rahmen des Projekts wurden ethanolische Extrakte der Heilpflanzen »Echinacea«, »Cistrose« und »Beifuß« in resorbierbaren anorganischen Materialien verkapselt.

In Form von Kieselgel- und Titanoxolactato-Partikeln, die mit flüssigen Sprühsolen kombiniert werden, können die Wirkstoffe elektroversprüht werden. Anschließend lassen sich die entsprechenden Partikel in ethanolischer oder mit Kieselsäuren gesättigter wässriger Phosphatpufferlösung dispergieren und demnach im Rachen- bzw. oberen Halsraum anwenden.
Zum Versprühen der verkapselten antiviralen Naturstoffe hat das Forschungsteam außerdem eine Elektrosprühanlage konzipiert und aufgebaut. Sie ermöglicht das Applizieren von Partikeln mit einer Größe von 1 µm bis 2 µm – der nasen- und rachengängigen Zielgröße.

Mit der Entwicklung des Rachensprays bietet das Projekt »Anti Viral Herbs« eine rezeptfreie Ergänzung zu bisherigen Präventions- und Therapiemaßnahmen.


Retardierte Wirkstofffreisetzung auch in Pharmazie und Kosmetik

Die Ergebnisse des Projekts sind zudem auch auf andere Naturstoffe unabhängig von deren antiviraler Wirkung übertragbar: Auch andere ethanollösliche, pflanzliche Wirkstoffe lassen sich in den neu entwickelten Partikelsystemen einsetzen. Auf diese Weise lässt sich auch in pharmazeutischen Salben oder kosmetischen Produkten eine retardierte Wirkstofffreisetzung erzielen, um den gewünschten Wirkungszeitraum zu generieren.

»BEAT-COVID«: neue Therapien gegen die Pandemie

Für sich schnell verändernde und ebenso schnell ausbreitende Infektionserkrankungen werden neue Therapieansätze gebraucht, wie das Beispiel SARS-CoV-2 deutlich vor Augen geführt hat. Ein großes Konsortium mit fünf Fraunhofer-Instituten – darunter auch das ISC – und kooperierenden Universitäten haben sich zusammengeschlossen, um neue Therapiestrategien und Plattformtechnologien zu entwickeln, mit denen schnell und zuverlässig solchen »neuen« Erkrankungen entgegengetreten werden kann.

Im Projekt BEAT-COVID standen für die Prozessentwicklung drei Therapieziele im Fokus: das Virus am Eintritt in die Zelle zu hindern, das Virus direkt zu bekämpfen und schließlich die vom Virus ausgelöste überschießende Immunreaktion zu regulieren, die in vielen Fällen zu den schweren Krankheitsverläufen beigetragen hat. Während für die ersten beiden Ziele ein Therapieansatz auf der Basis sogenannter viraler Vektoren und siRNA (small interfering RNA, engl. für kleine eingreifende RNA) untersucht wurde, kamen für die Regulierung der überschießenden Immunantwort entzündungshemmende Antikörper zum Einsatz, die inhaliert werden können und so die Lunge unmittelbar und schnell erreichen.

Zur Validierung der Wirksamkeit der Therapiestrategien wurden verschiedene In-vitro-Testverfahren eingesetzt. Deren Vorteile liegen einerseits in der Schnelligkeit bzw. Genauigkeit in Bezug auf die Wirksamkeit und in der Reduzierung von Tierversuchen durch  die Verwendung humanen Zellmaterials. Dadurch lässt sich das Screening von potenziellen – auch bereits für andere Erkrankungen zugelassenen – Wirkstoffen mit geringerem Aufwand und aussagekräftigen Ergebnissen durchführen.

Das Translationszentrum für Regenerative Therapien des ISC war hier mit seiner Expertise für Tissue Engineering und In-vitro-Testmodelle beteiligt. So wurden in vitro kultivierte Gewebemodelle bereitgestellt, die möglichst natürlich die Schleimhaut der oberen Atemwege und der Lunge aus humanen Zellen funktionell und dreidimensional nachbilden, sowohl als gesundes Kontrollgewebe als auch als infiziertes, erkranktes Gewebe. Mit diesen In-vitro-Modellen der Atemwege ist es möglich, ein umfassendes Bild über die wahrscheinlichen Prozesse, wie sie wohl auch nach einer Virusinfektion im Menschen ablaufen, zu bekommen und damit sowohl das Infektionsgeschehen selbst als auch die Wirkung der in BEAT-COVID erarbeiteten Therapieansätze direkt zu beobachten.